Ich habe 8 Tage gebraucht, um das Theaterstück „John Gabriel Borkman“ im Prater zu verdauen. Hier ist mein Ausscheidungsprodukt.
AUA! Diese Aufführung tut weh! Sowohl den Schauspielern als auch den Zuschauern. Das Stück dauert bis zu 12 Stunden (ohne Pausen) und hat den konstanten Lautstärkepegel einer Großbaustelle. Audiospitzen erreichen auch mal das Niveau eines startenden Flugzeugs. Die scheinbar bis zu 30 Schauspieler fordern sich den totalen Volleinsatz ab. Physisch und psychisch. Mir wurde erzählt, dass sie nach dem 12-Stunden-Wahnsinn regelrecht kraftlos umkippen.
Die Schauspieler bewegen sich allesamt stockend und ruckartig wie in einem alten Computerspiel aus den 80er Jahren. Sie sind nur die stummen Figuren des Regisseurs, denn wenn sie mal Laute oder gar kurze Sätze von sich geben, kommen diese von der Audioeffekt-Zentrale im Rücken des Zuschauerraums. Wie in einem überdimensionalen Comic kommen QUIETSCH, BUMMMMS, PLOP, BOING, KLACK, PENG und ***** in voller Lautstärke über die Beschallungsanlage des Raums. Gelegentlich gibt es mal einen einfachen Satz, der dann fast bis zur Besinnungslosigkeit x-fach wiederholt wird. „Leben ist Arbeit“ zum Beispiel. Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit Leben ist Arbeit – auditives Copy & Paste bis zur vollständigen Trance der Zuschauer. Die Schauspieler tragen Gesichtsmasken im Stile von Anonymous oder der Occupy-Bewegung. Auch die Techniker im Hintergrund tragen Masken. Hier zeigt niemand vom Ensemble – bis auf eine einzige Ausnahme – das wahre Gesicht.
Das Bühnenbild ist ein knallbunter und handgemachter Papp-Komplex mit mehreren teilweise wechselnden Räumen, Türen, Bereichen, Gängen, Fenstern, Straßen und Strommasten. Auch die Bühne erinnert an einen handgemalten Comic. Gegenstände gibt es meist nur als zweidimensionale Pappen: Platzhalter ohne räumliche Tiefe, die „ich-bin-nur-Symbol“ schreien. Alles Theater also. Nix ist echt.
Wirklich echt ist nur der Regisseur Vegard Vinge! Der bewegt sich lässig und relativ geschmeidig und eben nicht künstlich verzerrt wie seine Marionetten-Schauspieler. Der Regisseur ist sowieso das zentrale Element in diesem Spiel. Immer unterwegs. Mal läuft er durchs Bühnenbild, hüpft in den Seitengängen, durchstreift die Zuschauerreihen oder gibt den Technikern im Kontrollraum Anweisungen. Er ist während der ganzen 12 Stunden auch der Einzige, der sprechen darf. So richtig echt und spontan und ganz ohne die üblichen Audioeinspielungen. Dazu hängen überall im Bühnenbild versteckt Mikrophone für ihn herum. Dabei wird seine Stimme Donald-Duck-mäßig verzerrt und man braucht eine ganze Weile, um seine Worte halbwegs zu verstehen. Optisch erinnert er an eine Mischung aus den Psycho-Killern in „Funny Games“ und „A Clockwork Orange“. Ich habe von Anfang an Angst vor diesem Typen.
Und ja: Der Regisseur pisst sich während der Aufführung mehrmals in den eigenen Mund, schießt kleine Urin-Fontänen in die Höhe und zappelt dabei wie ein Kleinkind, das etwas Verbotenes tut. Das Theater der Provokation ist zurückgekehrt: Grenzüberschreitungen und Körperflüssigkeiten auf und neben der Bühne.
Der Regisseur steckt sich Gegenstände in den Arsch oder lässt körpereigene Endprodukte daraus herausquellen. Er zerstört mit Händen und Füßen in brachialen Gewaltakten große Teile des Bühnenbilds oder zerschmettert die Sitzbänke von Zuschauern, die er gestikulierend von eben diesen vertreibt. Wie ein Lausbub sucht er ständig nach Möglichkeiten, irgendwelchen provokanten Blödsinn zu machen. Mit einer Papp-Pistole erschießt er mehrere Nackte und überschüttet sie mit rotem Ketchup-Blut. Eine gefühlte halbe Stunde malträtiert er eine Sexpuppe mit Messern, Sägen und Kunstblut in Ketchupflaschen, um dann den rot-verschmierten Kopf wie einen Fußball ins Publikum zu kicken.
Und trotzdem wird es der Aufführung überhaupt nicht gerecht, sie mit diesen Schock-Sequenzen zu beschreiben. Denn diese machen vielleicht 5% des Abends aus. Die restlichen 95% bestehen aus beeindruckendem Schauspiel, Humor, Film-Einblendungen, einem Live-Konzert, Interaktion mit Unbeteiligten auf der Kastanienallee, skurrilen Requisiten, marschierenden Soldaten, Skelett-Orchestern, Panzern aus Pappe und einer beeindruckenden Live-Audio-Synchronisation des Geschehens. Sind die Ohren von den Audio-Schleifen ermüdet, kann man die Augen auf die Suche nach Details schicken: Man findet immer irgendwo noch welche. Das zugrundeliegende Theaterstück „John Gabriel Borkman“ ist mehr als 100 Jahre alt, passt aber mit seiner Story vom Bankdirektor, der seine Bank mit illegalen Transaktionen in den Ruin treibt, wunderbar in die Jetztzeit.
Insider versichern uns, dass jeder Abend anders ist und dass zwischen den Aufführungen ständig neue Szenen entwickelt und geprobt werden. Die Bilder, die man als Zuschauer sieht, sind monströs und grell. Die Atmosphäre im Prater würde wahrscheinlich auch einem David Lynch oder David Cronenberg gefallen. Zu fortgeschrittener Stunde wurde das Publikum immer mehr Teil der Darbietung: Man schreit, tanzt und spricht miteinander. Die Pausen bestimmt man selbst und geht auf die Straße, um zu rauchen, Bier zu kaufen oder Hotdogs zu essen.
Verstörender Höhepunkt der Zuschauer-Interaktion war das Angebot des Regisseurs, Geld an einen Zuschauer zu bezahlen, der die kriechende Figur des Anwalts auf der Bühne anpinkelt. Nach einer Steigerung der Prämie von 10 auf 100 Euro erhob sich eine junge Frau und lief auf die Bühne. Ich traute meiner Wahrnehmung nicht mehr, wusste nicht mehr, wo ich bin. Endzeit! So muss sich die Endzeit anfühlen. Der Vorgang entfesselte einen Emotionssturm im Publikum und Parolen wurden laut: „Los, mach schon!“, „NEIN, TUE ES NICHT!“, „Gib diesem zynischen Drecksack von Regisseur nicht seine Genugtuung!“, „Scheiss auf die Volksbühne!“. In dieser Zuspitzung zeigt sich, um was es in diesem Theaterstück geht: große Emotionen! Wo liegen die Grenzen? Gibt es Grenzen? Ist das schon die Endzeit? Schließlich blieb ihre Hose oben und sie ging auf die Toilette.
Nachdem wir anfangs fast 4 Stunden ausgeharrt haben, ist unsere Gruppe für 2 Stunden gemeinsam in ein Restaurant gegangen. Und obwohl ich diese Pause irgendwie nötig hatte, so habe ich mich fast schon geärgert, als wir gegen 22 Uhr zurück kamen und nach dem Bühnenbild zu urteilen, viel passiert sein musste. Sofort haben mich die Schauspieler mit ihren skurrilen Bewegungsabläufen wieder eingefangen und mich in eine mir unheimliche Trance versetzt. Und obwohl es oft unerträglich wurde, konnte ich mich dem Wahn(sinn) nicht entziehen. Das Stück ist ewig lang, viel zu laut und besteht aus schrillen Wiederholungsschleifen. Aber es war so toll, dass ich es in den folgenden Tagen immer noch nicht ganz aus meinem System ausscheiden konnte.